Interview mit Susanne Herbst von der Wirtschaftsförderung Wesermarsch GmbH
Brake. Die Textilbetriebswirtin Susanne Herbst von der Wirtschaftsförderung Wesermarsch GmbH und dem Verbund familienfreundlicher Unternehmen Wesermarsch / Friesland e.V. hat im Juli 2022 das erste Mal das Siegel für Familienfreundlichkeit verliehen. Ausgezeichnet wurde die Gemeinde Ovelgönne. In dem folgenden Interview gibt sie einen Einblick, wie Unternehmen sich in punkto Familienfreundlichkeit verbessern können.
Frau Herbst, welche Voraussetzungen musste man für diese Auszeichnung erfüllen?
Die erste Voraussetzung ist die Mitgliedschaft in unserem Verbund, denn nur Mitgliedsunternehmen können sich durch uns zertifizieren lassen. Jeder Arbeitgeber hat sehr individuelle familienfreundliche Angebote. Das soll auch im Zuge der Zielvereinbarung so herausgearbeitet werden. Dafür kommen einige Mitarbeitende aus dem jeweiligen Unternehmen zu einem vom Verbund moderierten Workshop zusammen.
Im Anschluss führt eine Moderatorin vom Verbund einen Dialog mit der Geschäftsführung. Wird die Zielvereinbarung vom Arbeitgeber umgesetzt, erhält das Unternehmen das Siegel „Familienfreundliches Unternehmen“ und geht in die Umsetzungsphase. Eine Re-Zertifizierung erfolgt nach zwei Jahren.
Gibt es schon viele Kandidaten für dieses Jahr? Und welchen Wert hat so ein Siegel für die Betriebe?
In der Tat ist die Nachfrage nach einer Zertifizierung sehr groß und sogar Unternehmen, die noch kein Mitglied sind, fragen gezielt nach einer Mitgliedschaft nach. Der Vorteil für Unternehmen liegt darin, dass sie durch die Befragung der Beschäftigten deren Wünsche erfahren und auf diese eingehen können. Die Mitarbeitenden fühlen sich wahrgenommen. Im Ergebnis bessert sich das Betriebsklima, die Motivation und Einsatzbereitschaft der Beschäftigten erhöht sich und führt zu besseren Arbeitsleistungen sowie geringeren Fehlzeiten und einem längeren Verbleib im Unternehmen. Mit der Verleihung des Siegels steigt die Attraktivität des Arbeitgebers in der Öffentlichkeit und bietet einen echten Wettbewerbsvorteil bei der Gewinnung von neuen Mitarbeitenden.
Stichwort Personalgewinnung: Corona hat unseren Blick auf die Arbeitswelt noch mehr verändert. Dabei setzen viele Betriebe allein auf Home-Office und Teilzeit… aber sind das die Allheilmittel?
Beschäftigte wollen mit all ihren Bedürfnissen wahrgenommen werden und Wertschätzung erfahren. Unternehmen, die dies erkannt haben, bieten z.B. betriebliche Kinderbetreuung an oder beteiligen sich an den Betreuungskosten. Manche organisieren sogar Ferienbetreuungsangebote, damit sich die Eltern Urlaubstage sparen.
Immer mehr Pflegebedürftige werden von Angehörigen zu Hause versorgt, die häufig berufstätig sind. Sie benötigen Unterstützung, zum Beispiel in Teilzeit oder Home-Office arbeiten, um Beruf und Pflege gut vereinbaren zu können. Eine familienfreundliche Unternehmenskultur sollte daher auch die Bedürfnisse von Menschen in einer Pflegesituation berücksichtigen.
Reicht da das Ziel „Familienfreundlichkeit“, denn nicht jeder sieht seine Zukunft als Eltern?
Wir sehen den Begriff Familienfreundlichkeit als Synonym für eine gute Work-Life-Balance. Auch Menschen, die keine Kinder zu betreuen oder Angehörige zu pflegen haben, wünschen sich mehr Zeit neben der Arbeit. Ein aktueller Report der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zeigt: Knapp die Hälfte der Menschen in Deutschland wünscht sich, weniger als fünf Tage pro Woche zu arbeiten.
Die junge Generation möchte mehr mitbestimmen, mehr Einfluss auf Entscheidungen nehmen. Sie stellt ihre persönlichen Ansichten und Sorgen oft stärker in den Mittelpunkt. Wie lassen sich diese Bedürfnisse mit den oft unterschiedlichen Ansichten der älteren Generation vereinbaren?
Die junge Generation hat die Erwartungshaltung, dass Unternehmen auf sie zukommen und ihre Bedürfnisse erfüllt werden. Erst dann sind sie bereit, sich auf den Arbeitgeber einzulassen. Innerhalb der Generationen im Unternehmen ist mehr Toleranz gefragt. Auch wenn die älteren Generationen ihre Bedürfnisse nicht so sehr in den Vordergrund stellen, sollten sie tolerieren, dass die junge Generation diese Haltung hat. Besonders gute Erfahrungen haben unsere Verbundunternehmen mit altersgemischten Teams gemacht, deren Mitglieder voneinander lernen und sich gegenseitig respektieren.
Die Bedürfnisse aller Beschäftigten ständig im Blick zu haben, scheint eine echte Mammutaufgabe zu sein. Wo gibt es Unterstützung?
Natürlich bei uns, der Koordinierungsstelle Frauen und Wirtschaft Jade-Weser und dem Verbund familienfreundlicher Unternehmen Wesermarsch/ Friesland e.V.. Dabei sehen wir uns als Schnittstelle zwischen den Unternehmen und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Mit unserem Know-how in der Personalentwicklung unterstützen wir unsere Mitgliedsbetriebe zu familienfreundlicher Personalpolitik durch Beratung, Qualifizierung und der Möglichkeit, sich zu vernetzten.
Susanne Herbst studierte Textilbetriebswirtschaft in Nagold und leitet die Koordinierungsstelle Frauen und Wirtschaft Jade-Weser. Foto: privat